Selbstorganisation braucht klare Regeln
Stefan Kühl fragt in seinem Artikel („Führung durch Vertrauen ist naiv“ von Stefan Kühl, Soziologe an der Universität Bielefeld, F.A.Z. vom 23. April) nach der Rolle des Vertrauens – sowohl in traditionellen Organisationen als auch in Organisationen der sogenannten Neuen Arbeitswelt. Wir stimmen Kühl zu, wenn er Vertrauen als eine notwendige Antwort versteht, mit der Unternehmen auf die zunehmende Unsicherheit und Komplexität ihrer Umwelt reagieren. Je komplexer und dynamischer die Umwelt ist, umso weniger lassen sich Organisationen zentral steuern. Vertrauen kann Handlungsspielräume jenseits von Vorgaben und Kontrolle schaffen. Des Weiteren sind wir uns mit Kühl einig, dass informale Aspekte der Organisation formale Strukturen nicht ersetzen können.
Was wir jedoch anders sehen und erleben, ist seine Einschätzung, neue selbstorganisierte Organisationsformen wie Holacracy oder skalierte Agilität hätten die Tendenz, auf verbindliche Regeln der Zusammenarbeit weitgehend zu verzichten. An der Stelle verbindlicher Regeln sieht Kühl hier die naive Hoffnung, die Zusammenarbeit könne informell geregelt werden. Gerade wer es ernst meint, die Potentiale der Selbstorganisation in einer Organisationen zu heben, braucht klar formalisierte Regeln, Rollen und Prozesse. Nur auf dieser Basis kann man sich, wie wir im Folgenden zeigen, im berechtigten Vertrauen selbst organisieren.
Die konventionelle Organisation schafft Vertrauen in Stabilität
In Zeiten rasanter, disruptiver und wenig vorhersehbarer Umweltveränderungen erweisen sich herkömmliche Organisationen als unzureichend flexibel oder unzureichend anpassungsfähig. Das kann man ihnen gar nicht zum Vorwurf machen. Die konventionelle Hierarchie wurde nicht für Anpassungsfähigkeit, sondern für ihr Gegenteil konzipiert: Verlässlichkeit und Stabilität hervorzubringen und dabei immer effizienter zu werden. Das hat sich über Jahrzehnte bewährt. Doch diese Zeiten sind vorbei, wie immer mehr Unternehmen in immer mehr Branchen aktuell erleben.
Darauf, dass es andere Organisationsformen braucht, die grundsätzlich auf Adaptabilität und Agilität ausgerichtet sind, haben Forscher wie March und Weick bereits vor langer Zeit hingewiesen. Doch erst mit dem Leidensdruck der letzten Jahre entwickeln sich nun brauchbare Konzepte der agilen Kooperation, Entscheidungsfindung und Steuerung.
Die neue Organisation schafft Vertrauen auf die Spielregeln
Hinter diesen neuen Konzepten steckt keineswegs der Gedanke, man müsse in herkömmlichen Organisationsformen nur die Regeln etwas lockern, um neue Freiräumen und mehr Beweglichkeit zu erzeugen. Im Gegenteil, es entstehen fundamental neue Organisationsprinzipien. Führung, Koordination und Kontrolle werden grundsätzlich neu verstanden, verknüpft und verteilt. Selbstorganisation bedeutet, dass Mitarbeiter/-innen, Teams und Einheiten in einem verbindlichen und klar kommunizierten Rahmen selber entscheiden, was sie erledigen können und wie sie dies am besten tun. Damit das gelingt, braucht es klare Spielregeln, die auf allen Ebenen und für alle Beteiligte gleichermaßen gelten, auf die sich alle verlassen können und die, sobald sie nicht mehr hilfreich für den Organisationszweck sind, gemeinsam weiterentwickelt werden können.
Selbstorganisation: Wenn, dann richtig!
Selbstorganisation gelingt, wenn klare und widerspruchsfreie Rahmenbedingungen auf drei Ebenen geschaffen werden: auf der Ebene der Architektur (Gestaltung von Räumen), der Ebene der Aufbau- und Ablauforganisation (Gestaltung von Struktur) und der Ebene der Kooperation (Gestaltung von Kommunikation). Entwicklungen auf diesen Ebenen müssen Hand in Hand gehen und sich wechselseitig unterstützen. Es ist nichts gewonnen, wenn beispielsweise auf architektonischer Ebene neue Kooperationsräume geschaffen werden, in denen sich Menschen begegnen und austauschen können – sie aber auf der Strukturebene keine Freiheit haben, miteinander innovative Ideen und Lösungen anzustoßen, Entscheidungen zu treffen und umzusetzen. Genauso ist es zum Scheitern verurteilt, Entscheidungs- und Steuerungskompetenzen in Teams zu verlagern – um dann am Jahresende trotzdem individuelle Boni auszuzahlen.
In der Praxis dezentral gesteuerter Organisationen zeigen sich vier Prinzipien, die über alle Ebenen hinweg zur Anwendung gebracht werden. Sie liegen jeder der neuen Organisationsformen zugrunde: verteilte Autorität, Transparenz, evolutionäres Lernen und die Orientierung am Zweck der Organisation.
Prinzip 1: Verteilte Autorität
Entscheidungskompetenz muss dahin, wo die Dinge geschehen. Ob Personen oder Teams, wer auch immer direkt am Kunden, an der Maschine, in der Raumpflege oder in der Forschung und Entwicklung tätig ist, soll selbst entscheiden können, wie er im Sinne eines gemeinsamen Ziels am besten vorgeht. Das heißt, nicht mehr auf Vorgesetzte und Anweisungen zu warten, sondern aus der eigenen Erfahrung und Expertise zu schöpfen und für das eigene Tun Verantwortung zu übernehmen. Daraus leitet sich kein Laissez-faire-Prinzip ab. Es erfordert diszipliniertes Arbeiten mit hohen Erwartungen an das Selbstmanagement und den Umgang mit Konflikten. In kleinen Organisationsstrukturen und Projekten ist das nicht nur erprobt, sondern schon Standard: In der Software-Entwicklung und zunehmend auch in anderen Branchen haben agile Ansätze wie Scrum die klassischen Projektmanagement-Methoden bereits abgelöst. Aktuell kommen Modelle wie Holacracy oder skalierte Agilität zum Einsatz, um diese Ansätze auch auf ganze Organisationen zu übertragen.
Verantwortung zu delegieren reicht nicht. Wenn Autorität verteilt wird, muss dies konsequent erfolgen. Selbstorganisation erfordert, dass sich übergeordnete Stellen in ihrer Machtfülle selbst beschränken – und diese Beschränkung verbindlich ist. So liegt beispielsweise in agilen Methoden die finale Verantwortung für die Priorisierung der Arbeitsschritte eines (beispielsweise einwöchigen) Planungszeitraums (eines sogenannten Sprints) beim Team. Weder kann der Vorgesetzte das Plan-Soll für den Planungszeitraum festlegen, noch kann er bestimmen, dass die Planung geändert werden soll, weil sich aus seiner Sicht die Prioritäten verändert haben. Für Entscheidungen mit größerer Tragweite müssen Prozesse vereinbart werden, die für alle bindend sind und auch nur gemeinsam wieder geändert werden können. Und dieses Prinzip setzt sich auch auf der Strukturebene konsequent fort: In etablierten Organisationen mit verteilter Autorität hat die übergeordnete Ebene technisch gar keine Möglichkeit, die Aufbauorganisation der Teilbereiche zu entscheiden: Wie sich ein Bereich aufstellt, liegt gänzlich in seiner Verantwortung.
Prinzip 2: Transparenz statt Kontrolle
Wer kontrolliert bei Autonomie in Kollaboration? Natürlich stellt sich bei der Übertragung von Entscheidungsmacht die Frage der Kontrolle. Wenn mehrere Rollen in eigener Entscheidungskompetenz zusammenarbeiten, hilft nur Transparenz. Gemäß dem protestantischen Prinzip, an das uns der indische Autor Vineet Nayar erinnert: „Willst du dein Haus in Ordnung halten, baue große Fenster ein.“ Ohne Transparenz führt verteilte Autorität zu unvereinbaren Realitäten innerhalb der Organisation. Koordination und Compliance werden unmöglich. Reife Organisationen in Selbstorganisation machen daher ihre Unternehmenskennzahlen allen Mitarbeitern/-innen zugänglich. Sogar Gehälter werden zunehmend transparent gemacht; intern, in manchen Fällen – wie beim Social Media Unternehmen Buffer – auch öffentlich. Offenheit wird auf allen Ebenen zum zentralen Designprinzip. Kommunikationsbarrieren werden bewusst eingerissen, Tabuzonen radikal dezimiert. Diejenigen, die Entscheidungen mit Auswirkungen auf das gesamte Unternehmen zu treffen haben, legen offen, welche Alternativen sie abwägen, welche Fragen sie beschäftigen und laden andere dazu ein, ihre Meinung in den Entscheidungsfindungsprozess einzuspeisen. Derartige Partizipationsprozesse sind in verschiedenen etablierten Unternehmen wie der Deutschen Bahn mittlerweile erprobte Praxis – um die Qualität von Entscheidungen bei komplexen Problemen zu erhöhen.
Prinzip 3: Evolutionäres Lernen
Abschied von der Illusion der Planbarkeit. Organisationen in Selbstorganisation haben sich von der Illusion verabschiedet, dass in einer komplexen Welt miteinander vernetzte Einflussfaktoren kalkulierbar und Kundenbedürfnisse vorhersehbar sind. Statt nach dem Motto „predict and control“ zu steuern, folgen sie dem Leitsatz „sense and respond“. Auch Prozesse und Produkte werden nicht als dauerhaft gedacht, sondern lediglich als Ausgangsbasis für die nächste Iteration. Es geht in agilen Organisationsansätzen darum, mit möglichst vielen Sensoren relevantes Feedback zu erhalten und in kurzen Zyklen darauf mit Anpassung zu reagieren. Denn nur so lässt sich in einem Umfeld ständiger Disruption die Innovationsgeschwindigkeit und Innovationsradikalität erhöhen.
Die Gefahr dabei ist, in gesammelten Informationen und großen Mengen an Optionen zu versinken. Daher gilt es, ein klares Prozedere zu entwickeln, um aus einer Vielzahl neuer Geschäfts- oder Produktideen diejenigen mit Potential zu selektieren. Manche Firmen wie WATTx haben dafür do-or-die- sessions entwickelt: Regelmäßig einberufene Expertenrunden hinterfragen Ideen aus verschiedenen Perspektiven. Geben Entwicklerteams keine befriedigenden Antworten, wird das Projekt konsequent gestoppt, und die Ressourcen werden in andere Prototypen investiert. Holacracy greift das iterative Anpassungsprinzip für die Weiterentwicklung ganzer Organisationen auf. Womit eine zentrale Steuerung heillos überfordert wäre, geschieht hier permanent in sogenannten Governance-Meetings. Die Regeln und Prozesse der jeweiligen Unternehmensbereiche werden hier von den beteiligten Rollen nach klaren Spielregeln kontinuierlich weiterentwickelt. Dabei gibt es verbindliche Kommunikationsprinzipien, wie unterschiedliche über- und untergeordnete Ebenen vertreten und gehört werden.
Prinzip 4: Zweck-Orientierung
Alle Regeln dienen einem Ziel: Der Erfüllung des Purpose (Zweck) einer Organisation. Wo finden Organisationen Orientierung, wenn es in einer volatilen, ungewissen und komplexen Umwelt keine stabilen Rahmenbedingungen mehr gibt? Diese finden sie nicht nur im Außen, nicht nur in Marktanalysen oder Börsenwerten, sondern auch im Innern, im eigentlichen Sinn und Zweck des Unternehmens. Der Purpose einer Organisation ist ihre Antwort auf die Frage, warum es sie gibt und was ihr Beitrag in der Gesellschaft ist. Dieser Seinszweck wird in selbstorganisierten Organisationen zum Leitstern, an dem alle ihre Navigationsinstrumente und Entscheidungen ausrichten können. Auch Bereiche und Rollen definieren ihren jeweiligen Purpose. Mitarbeiter/-innen in holakratischen Organisationen können im Abgleich mit dem Purpose ihres Bereichs oder ihrer Rolle entscheiden, ob sie ein Projekt annehmen oder nicht. Voraussetzung ist, dass dem Purpose eine gemeinsame Entscheidungsfindung des Teams zugrunde liegt. So wird sichergestellt, dass Handeln übergreifend koordiniert wird.
Menschen, die sich und ihre Arbeit gemeinsam mit anderen selbst organisieren, brauchen dafür spezifische Kompetenzen. Nicht nur für Führungskräfte, sondern auch für Mitarbeiter/-innen ergeben sich daraus neue Möglichkeiten und Herausforderungen. Wer hier wirksam werden will, muss sich ausdrücken, Konflikte ansprechen und sich einbringen können. Konnte Durchsetzungsmacht in Hierarchien mangelnde soziale Kompetenz ausgleichen, geht dies in selbstorganisierten Organisationen nicht. Hier gilt es, Führungskräfte und Mitarbeiter/-innen dabei zu unterstützen, die Kompetenzen zu erwerben, die es ihnen ermöglichen, mitzusteuern. Gruppen- und organisationsdynamische Treffen erweisen sich hier als besonders geeignet, Selbststeuerung, Feedback, Aushandlungsprozesse mit Kolleg/-innen sowie den Umgang mit Konflikten einzuüben. Selbstorganisation, dezentrale Steuerung und verteilte Autorität sind in allen Kontexten realisierbar. Die Zahl der Erfolgsbeispiele steigt derzeit rasant. Wie Organisationen dabei die Prinzipien der Selbstorganisation für sich ausprägen, ist individuell verschieden. Ein One-size-fits-all-Modell wird es nicht geben! Entscheidend ist, dass bereits der Weg dorthin den Grundprinzipien der Selbstorganisation auf allen Ebenen in einer durchgängigen und glaubwürdigen Weise folgt. Ein Marketing Statement als Zweck wird von Mitarbeitern/-innen belächelt und ansonsten ignoriert. Ohne verteilte Autorität gibt es kein evolutionäres Lernen, das Schlüsse aus Erfahrungen ermöglicht. Selbstorganisation von oben zu verordnen ist absurd. Kurz gesagt: Vertrauen ist das, was entsteht, wenn sich alle gemeinsam nach allen Regeln der Kunst selbst organisieren.
Babette Julia Brinkmann ist Professorin für Organisations- und Gruppenpsychologie an der Technischen Hochschule Köln.
Matthias Lang ist Ko-Gründer von dwarfs and Giants, einem Beratungsunternehmen mit Spezialisierung auf neue Organisationsmodelle.
Quellen:
- Selbstorganisation braucht klare Regeln, 16.07.2018, http://plus.faz.net/
- Führung alleine durch Vertrauen ist naiv, 23.04.2018, http://www.faz.net/
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